Andreas Kühne

Zur Eröffnung der Ausstellung von Cornelia Eichacker und Toni Stegmayer am 13. September 2006, 18 Uhr im Bezirk Oberbayern, München Prinzregentenstrasse

Es erscheint zunächst schwer, die Arbeiten von zwei Künstlern, die bereits auf ein umfangreiches Werk zurückschauen können, in einer Laudatio zu würdigen. Besonders dann, wenn sie nicht durch eine längere Zusammenarbeit oder nah verwandte künstlerische Ziele miteinander verbunden sind.Ich will deshalb versuchen, mich ihren Arbeiten über den Begriff der ästhetischen Erfahrung zu nähern.

Ich will hier ästhetische Erfahrung ausschließlich als "sinnliche Wahrnehmung" verstehen. Ganz im Sinne von "Aisthesis".

Jerry Zeniuk hat bei einer Ausstellungseröffnung seiner ehemaligen Assistentin Cornelia Eichacker einmal gesagt, dass eine ästhetische Erfahrung (aesthetic experience) ein Gefühl ist, das auf geistige Weise übermittelt wird. Mit Hegel könnten wir sagen, dass durch dieses Gefühl die sinnliche Existenz von Ideen manifest wird.

Bei den Arbeiten von Cornelia Eichacker geht es jedoch nicht um platonische Ideen, mit deren Hilfe sich die Welt erklären ließe, sondern um eine Idee, die in der Kunst auch bereits eine längere Tradition besitzt, die bis zu den Anfängen der romantischen Malerei zurückführt. Das Bestreben nämlich, die Materie in der Malerei zu überwinden und sie in Farbe bzw. Licht aufzulösen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Cornelia Eichacker versucht, die Farbe gänzlich vom Gegenstand zu befreien, wie das Yves Klein und - in München - Ruprecht Geiger unternommen haben. Nein, Cornelia Eichacker - und damit folgt sie ihrem langjährigen Lehrer und Mentor Rudi Tröger - hat den Gegenstand, die Natur der Gegenstände nie ganz aufgeben - auch wenn sie bei ihren Kompositionen nicht vom Gegenstand ausgeht.

Sie ist dennoch keine konkrete Künstlerin geworden. Die Natur, allerdings in einer verwandelten, gleichsam destillierten Form ist in ihren Bildern immer - mindestens potentiell - vorhanden. Pflanzen und Bäume, Flüsse und Himmel, Häuser und Menschen haben eine andere Gestalt, eine andere Form bildnerischer Organisation angenommen. "Die Farbe gewinnt ihre volle Ausdruckskraft erst dann, wenn sie organisiert ist, wenn sie der Gefühlsintensität des Künstlers entspricht" - lautet ein schöner, heute unvermindert gültiger Satz von Henri Matisse. Doch die bildnerische Organisation, die Wälle gegen das Chaos der Dinge, die Wälle gegen die reine Gefühligkeit aufbaut, erstarrt bei Cornelia Eichacker nicht in Geometrie. Kein größerer Gegensatz ließe sich vorstellen zu ihren Bildern als die Farbkompositionen von Piet Mondrian. Die Absage Mondrians an die individuelle Empfindung, an die persönliche Handschrift war rigoros. Er versuchte Schönheit fern von jeder gegenständlichen Erinnerung in der Harmonie weniger Farben und einfachster Formen zu realisieren. Nicht als Abstraktion, sondern als Gegenbild zur Natur. Im Gebrauch der Farben wird es ganz deutlich: Mondrian beschränkte sich auf die Primärfarben Rot, Gelb und Blau und die Nichtfarben, Schwarz, Grau und Weiß und machte seine Bilder so zu unpersönlichen Meditationstafeln.

Auch die Bilder von Cornelia Eichacker - so empfinde ich sie - sind Meditationstafeln. Doch sie sind alles andere als unpersönlich. Und sie beschränken sich auf eine ästhetische Botschaft - "an aesthetic experience". Sie wollen keine bessere Welt antizipieren.

Zentral für ihre Malerei sind die Wirkungen der Farben zueinander und die daraus entstehenden Farbräume. Während des Malprozesses findet ein Wechselspiel von Aktion und Reflexion, von Emotion und Ratio statt und in dessen Ergebnis entsteht eine Fülle sorgfältig aufeinanderbezogener Strukturdetails und gegliederter, in der Regel durchscheinender Farbflächen. Durch die Überlagerung der Farben bleibt die Findung einer originellen Farbigkeit als Prozeß sichtbar. Cornelia Eichacker formuliert über die Wahr ihrer Farben, den Duktus des Pinselstrichs und die Herstellung einer Farbräumlichkeit ihr individuelles Verhältnis zur Welt,

Von Toni Stegmayer habe ich gelernt, was eine "mentale Rotation" ist. Zunächst einmal dachte ich natürlich an Francis Picabia und seinen weltberühmten Aphorismus: "Unser Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann."

Doch ich mußte lernen, dass der Begriff "mentale Rotation" aus der modernen Psychologie stammt und ein Phänomen der "Visuellen Kognition" beschreibt. Zur Erforschung der "mentalen Rotation" werden Versuche unternommen, bei denen die Probanden Objektpaare vorgelegt bekommen und entscheiden sollen, ob die beiden Objekte identisch sind oder nicht - unabhängig von ihrer räumlichen Ausrichtung. Um die Aufgabe lösen zu können, drehen sie in ihrer Vorstellung die Objekte so lange, bis sie zur Deckung kommen. Mentale Rotation kann als ein Verfahren definiert werden, mit dem Wahrnehmungsbilder so lange transformiert werden, bis sie den Repräsentationen aus der Erinnerung entsprechen.

Die Skulpturen Toni Stegmayers widersetzen sich der mentalen Rotation in dem Maße, in dem sie diese provozieren: Sie könnten gar nicht "passend" gemacht werden, denn die Steine sind so raffiniert gebrochen und geschnitten, daß die Bruchflächen eine derartige "Korrektur" gar nicht erlauben würden.

Von den kühlen und elementaren Formen dieser Skulpturen geht eine Beunruhigung aus. Die meditative Stille, die diese minimalistischen blockhaften Gebilde zunächst auszuströmen scheinen, enthält ihre eigene Störung. Sie führt nicht in die ästhetische Ausgewogenheit klassischer Maßverhältnisse. Da ist etwas, spürt man, das Reibung verursacht, das als visuelle Erfahrung beginnt, das als solche begriffen werden will und das die Gedanken in Bewegung setzt.

Nach einer gewissen Zeit wird deutlich, daß Toni Stegmayer eine Strategie der sublimen Verstörung verfolgt. Die Steinstelen in der Werkgruppe "Konstellationen" - der Künstler vergleicht sie mit Wirbelsäulen - sind zunächst unversehrt, dann werden sie bis zur Mitte angeschnitten und anschließend gebrochen. Das Schneiden und Brechen verändert die Stelen so, daß sie sich etwas neigen. Und diese Neigung ist es, die für Verstörung sorgt. Je länger man hinschaut, desto mehr erscheinen die soliden Stelen fragil. Vielleicht könnten sie sogar einstürzen? Es wächst das Bedürfnis, sie korrigieren, sie aufzurichten zu wollen. Der Betrachter vollführt in der Tat eine "mentale Rotation"

Hat man sich betrachend so weit auf die Arbeiten Toni Stegmayers eingelassen, erreicht man den Punkt, an dem die Wahrnehmung unversehens in Reflexion umschlägt. Denn der Versuch, Brüche zu beheben, "die Dinge gerade zu rücken" , Widersprüche auszugleichen, und das Erlebnis seines Scheiterns ist eine grundlegende Erfahrung des In-der-Welt-Seins

Zugleich reflektieren diese Skulpturen das Phänomen der Zeit. Inmitten einer Formenwelt aus geraden Kanten und ebenen Flächen tun sich im wahrsten Sinne des Wortes Risse auf, wurde Stein aufgebrochen, der seine ungeformte Natur zeigt, die den Menschen an sich nicht braucht. Was sichtbar wird, ist komprimierte Zeit, das Residuum der nach Jahrmillionen zählenden Erdgeschichte, die mit unserer eigenen Zeit kontrastiert wird.

Die virtuelle Welt der Videokameras, Monitore und Dokumentationen, die Toni Stegmayer in manchen seiner Arbeiten mit dem so handgreiflichen und dauerhaften Material des Bildhauers kombiniert, sind der andere Pol dieser Meditation über die Zeit. Sie machen den Kontrast erlebbar - man könnte auch sagen, die Kluft - zwischen geologischen Epochen und dem im Vergleich mit ihnen winzigen Zeitraum, der zum Bearbeiten des Steins erforderlich ist. Sie führen in das Mit- und Gegeneinander von realer und virtueller Gegenwart, in dem wir uns alle bewegen müssen, das wir alle so oder so für uns zu bewältigen suchen und dessen Spannung wir doch als unaufhebbar erfahren.

Im tiefsten Innern der künstlerischen Form liegt auch eine Trauer, eine Spur von Verlust. Eine Skulptur, ein Bild, eine Zeichnung ist auch eine Erstarrung. Eine Einschränkung der unabsehbaren Formenvielfalt. Die materiell gewordenen Formen und Farben haben im Potential des Nicht-Seins einen "Riß" hinterlassen, sie haben das Reservoir dessen verringert, was hätte sein können Zugleich aber geht von jedem geglückten Werk eine Erfüllung aus, die sich jedem mitteilt, der die nötige Zeit, Bereitschaft und Unvoreingenommenheit mitbringt. Ist dies ein Widerspruch, eine unauflösbare contradictio in adiecto.

Beides ist wahr, und das Ganze ist ein Widerspruch, den man nicht aufheben kann. Aber man kann ihm ins Auge sehen, ihn sich bewußt machen und ihn produktiv werden lassen. Die Bilder von Cornelia Eichacker und die Skulpturen vonToni Stegmayer legen von diesem Prozeß auf ungewöhnliche und künstlerisch überzeugende Weise Zeugnis ab.

Text von Andreas Kühne